Was Kunst sei, wird gerne gefragt. Kurze und einfache Antworten sind beliebt, sie dürfen auch gerne mal banal sein. Wer aber der Mühe einer differenzierten Betrachtung aus dem Weg geht, begibt sich der Freude des Verstehens und verzichtet auf das Vergnügen der Kennerschaft. Und wenn ein Rest unerklärt oder unverstanden bleibt – oder sogar bleiben sollte, wie Gerd Kanz es postuliert – so erhält sich gerade dadurch der Impuls, eine künstlerische Arbeit stets aufs Neue zu überprüfen.
Zur Kennerschaft gehört auch, ein Werk als etwas Gewordenes zu betrachten, und sich über dessen Entstehungsprozess Klarheit zu verschaffen. Die Bilder von Gerd Kanz bieten in ihrer farblichen Subtilität und ihrem formalen Reichtum sensualistische Reize und visuelle Erlebnisse, die nicht das Resultat eines spontanen, schnellen Malvorgangs sind. Vielmehr verdanken sie ihre Entstehung einem über längere Zeit sich erstreckenden Schaffensprozess an der Schnittstelle von Zeichnung, Malerei und Skulptur. Sie feiern damit den Werk-Gedanken, der heute in digitalen, netzbasierten oder diskursorientierten Trends leicht verloren zu gehen droht.
Die auf den ersten Blick zutage tretende klare graphische Struktur der Bilder erwächst aus einer schrundigen, zerklüfteten Oberfläche. Dem zeichnerischen Liniengefüge glaubt man Gegenständliches zuordnen zu können, elementare Formen oder Gesten von menschlichem Maßstab in einem ansonsten abstrakten Umfeld. Das lineare Geflecht ist das Resultat eines fast im Wortsinne bildhauerischen Arbeitens. Kanz schafft gerne mit der Hand. Seine Bildträger bestehen aus einfachen Hartfaserplatten, die er mit dem Stechbeitel bearbeitet, in die er Furchen eingräbt und Schollen aushebt. Auf das entstandene Relief wird wechselweise Öl- und Temperafarbe dünn aufgestrichen oder flüssig aufgegossen. Da die Bilder während des gesamten Entstehungsprozesses am Boden liegen, bilden sich stellenweise Farbpfützen, deren Pigmentdichte beim Trocknen in den Vertiefungen eine satte, opake Farbigkeit erzeugt. Aquarellhafte Partien stehen im Kontrast daneben. Die Palette ist reduziert, und gerade darin spielt die Farbe ihre höchsten Trümpfe aus, Leuchtkraft und Nuancenreichtum.
Häufig arbeitet Gerd Kanz gleichzeitig an einer Serie. Wie ein Simultanschachspieler bewegt er sich dann von einem Bild zum anderen, prüft und interveniert. Für ihn hat dieses konzentrierte Arbeiten etwas Meditatives. Dabei sucht er Distanz zu jedem Bild und kann mit den gewonnenen Bewertungen im fortschreitenden Werkprozess neue Ansätze finden, gewinnt Klarheit über die Wirkung der Farbwerte, die sich beim Trocknen verändern.
Die mürbe Oberfläche seiner Bilder entsteht aus Überlagerungen und Durchdringungen. Geschehenes und Geschichtetes fallen zusammen, die Werke tragen die zeitliche Dimension ihres Entstehens sichtbar in sich. Ihre haptische Anmutung ist wesentlich für ihre Wirkung. In dieser haptischen Qualität – häufig berührt Kanz die Oberfläche seiner Werke – manifestiert sich ein elementarer Wert künstlerischer Aneignung der sichtbaren Welt. Es ist die zeichnende Hand, die der französische Philosoph Jacques Derrida einmal mit dem Tasten des Blinden verglichen hat. Im Moment des Zeichnens, so Derrida, entzieht sich die Linie der Kontrolle des Auges, der sie erst wieder im Resultat unterworfen werden kann. „Was heißt zeichnen? fragt van Gogh? Wie gelangt man dorthin? Zeichnen heißt sich einen Weg bahnen durch eine unsichtbare eiserne Wand.“
Die ausdrückliche Einbeziehung des Materials in die Malerei und die Würdigung taktiler, haptischer Relevanz ist ein Kennzeichen der Kunst des Informel, die sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte, und in deren Tradition sich Kanz ausdrücklich stellt. Die miteinander verwobenen Richtungen wie Tachismus, Abstrakter Expressionismus oder Lyrische Abstraktion, die sich seit der zweiten Hälfte der 1940er Jahre ausdifferenziert haben, sind durchaus heterogen. Während die einen surrealistischen Ansätzen folgen, fußen die anderen auf rationalistischen und analytischen Überlegungen und Experimenten.
Gemeinsam ist allen Strömungen des Informel die Zurückweisung des Primats der Form, die in der geometrischen Abstraktion herrschte. Gemeinsam ist ihnen auch die Prozesshaftigkeit des Werks. Eines sozial oder ideologisch bergenden Rahmens bedarf die informelle Kunst nicht, sie folgt keinem politischen Manifest oder sonstigen „kritischen“ Positionen. Und doch ist gerade das eine politische Haltung, sich der Instrumentalisierung der Kunst zu verweigern.
Gerd Kanz, der an der Kunstakademie in Nürnberg bei so unterschiedlichen Charakteren wie Rolf-Gunter Dienst, Johannes Grützke oder Ludwig Scharl, dessen Meisterschüler er zuletzt war, studiert hatte, fügt dem Informel eine neue Facette hinzu. Im Wissen um die Unbegrenztheit dieses kreativen Ansatzes stellt sich ihm zu keiner Zeit die Frage nach Trends. Kanz stärkt die Autonomie der Kunst, indem er auf ihrer Zweckfreiheit beharrt. Dem Betrachter verwehrt er das allzu leichte Vergnügen des Verstehens im flüchtigen Blick. Dafür schenkt er ihm die Lust der Erkenntnis bei intensiver Betrachtung.
Nicht zuletzt deshalb behauptet er sich international, werden seine Arbeiten nicht nur in Deutschland geschätzt und gesammelt, auch Galerien in Amsterdam oder New York bedienen sein Sammlerpublikum.
Seit einigen Jahren lebt Gerd Kanz in einer ehemaligen Brauerei im unterfränkischen Untermerzbach, in der sich neben dem großen Atelier auch Ausstellungsräume befinden. Dort kann der Besucher eine aufregende Entdeckung machen: Mit den derzeit präsentierten, im Frühjahr/Sommer 2011 entstandenen Werken dringt der Künstler förmlich in neue Dimensionen vor. Auf den ersten Blick völlig anders als die Bilder der vorangegangenen Periode, erweisen sich die neuen Arbeiten doch auch zugleich als die Ergebnisse eines ebenso kreativen wie konsequenten Weiterdenkens seines künstlerischen Ansatzes. Die Schichtungen und Strukturen seiner früheren Bilder treten in den neuen Werken mit plastischer Dimension hervor, die aus übereinandergelagerten dreidimensionalen Bogenstellungen entwickelt ist. Die frühere Farbigkeit, unter vielfältig gebrochenen weißen Lasuren fast bis zur Monochromie getrieben, blitzt nur noch an den Formkanten auf, setzt Akzente und verleiht Konturen. Licht und Schatten modulieren die Raumtiefe. Der Blick führt ins Innere.
Klaus Weschenfelder